Gegen das Schweigen, gegen das Vergessen: Gästeführerin Silke von Bremen informiert bei ihrem Rundgang durch Westerland über die Nazizeit auf der Insel.
„Beschenken Sie uns mit ihrem Wissen!“ bittet die Gästeführerin Silke von Bremen ihre Teilnehmer schon am Anfang des Rundganges durch Westerland. Ihr Thema ist das Dritte Reich auf Sylt und im Verlauf der nächsten zwei Stunden wird sie immer wieder darauf verweisen, wie wichtig das Sprechen über diese Zeit nicht nur für die Insulaner ist. Unsere Mitarbeiterin Wiebke Stitz hat ihr dabei zugehört.
Die Aufgabe, die Silke von Bremen übernommen hat, ist in keinerlei Hinsicht einfach. Bei strahlendem Sonnenschein und mit vorbei flanierenden Strandbesuchern in die dunkle Zeit der Insel einzutauchen, erfordert schon Biss. Der Andrang ist groß, Silke von Bremens Führung zum Thema „Drittes Reich auf Sylt“ ist ausverkauft, denn neben „Neuzugängen“ sind die Hälfte der Zuhörer von-Bremen-Fans, die gezielt die Angebote der ausgebildeten Gästeführerin besuchen. Weitere Interessenten stellen sich wissenshungrig zu der Gruppe. „Die ersten 15 Minuten dürfen alle zuhören, dann kontrolliere ich die Karten“, ermuntert die Wahl-Sylterin alle Anwesenden bei ihrer kompakten und geschichtlich fundierten Einführung zuzuhören.
Silke von Bremen nimmt ihre Zuhörer mit in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts, berichtet davon, dass der Fremdenverkehr auf Sylt durch die Weltwirtschaftskrise so gut wie zum Erliegen gekommen war. In Westerland stand fast jedes zweite Geschäftshaus 1932 vor der Zwangsversteigerung und die NSDAP konnte nach anfänglicher Ablehnung schnell Anhänger auf der Insel gewinnen. Nazigrößen wie Hermann Göring, Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und Roland Freisler, späterer Präsident des Volksgerichtshofes, besuchten Sylt ebenso wie der Lagerarzt Josef Mengele, die hier seine Flitterwochen verbrachte. Der Reichsarbeitsdienst übernahm im Zuge der Landgewinnung für „Volk ohne Raum“ den Bau des Nösse-Deiches.
Die erfahrene Gästeführerin hält alte Fotos hoch und zeigt, wie sich Westerland veränderte. „Man sieht die politische Wandlung auf der Insel auch an der Kleidung der Menschen. Mit dem Erstarken der NSDAP tragen viele keine Alltagskleidung mehr, sondern Uniformen.“ erklärt sie. Bei genauem Hinschauen sind auch heute in Westerland noch Verweise auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu finden: Die Panzermauer am Strand, Bunkerreste, die Stolpersteine in der Innenstadt, die im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gesetzt wurden.
Silke von Bremen stößt bei ihren Recherchen häufig auf Schweigen und Unkenntnis, nicht nur bei den Tätern, auch bei den Opfern. Nur so ist zu erklären, warum heute im Keller eines Appartementhauses in der Bomhoff-Straße noch die Originaltüren der Sylter Gestapo-Außenstelle hängen. In diesen Gefängnisräumen nahm sich die Westerländer Kauffrau Käthe Siegert das Leben, die beschuldigt wurde, mit einem Juden verheiratet zu sein. Einer von insgesamt 20 Stolpersteinen auf Sylt erinnert an sie, ebenso an den jüdischen Künstler Salli Katzenstein alias Franz Korwan, der 1913 die Keitumer Kirche St. Severin ausmalte. Besonders aufwühlend ist das Schicksal von Johanna Herold, für die in der Neuen Straße ein Stolperstein an der Stelle gesetzt wurde, an der ihre Familie ein Fotogeschäft führte. Sie soll auf die Frage „Wann gibt es endlich wieder Farbfilme?“ geantwortet haben: „Da müssen Sie warten, bis wir eine neue Regierung haben.“ Dafür wurde Johanna Herold denunziert und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. „Dort wurde sie von ihrer Sylter Freundin besucht, die wahrscheinlich nicht einschätzen konnte, was Auschwitz war“, berichtet Silke von Bremen. „Scham verschließt die Lippen“ ist die Gästeführerin sich sicher und gibt damit zu verstehen, warum über das, was die Freundin sah, offensichtlich nicht gesprochen wurde. Johanna Herold wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
Immer wieder stellt Silke von Bremen bei ihren Recherchen fest, dass die wenigen Zeitzeugen nicht über das Geschehene reden können oder wollen. „Das trifft sowohl auf die Täter als auch auf die Opfer zu.“ Mit dem Fall Reinefarth gibt sie hierfür ein weiteres Beispiel und führt ihre Gäste ins Rathaus. Heinz Reinefarth, nach dem Krieg erfolgreicher und beliebter Bürgermeister von Westerland, war mitverantwortlich für die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes und gehört zu jenen Kriegsverbrechern, die nie verurteilt wurden. Seit Kurzem hängt im Eingangsbereich des Rathauses eine Gedenktafel. Es waren schließlich die Polen, die die Sylter anlässlich des 70sten Jahrestages des Aufstandes fragten, wie sie mit diesem Stück ihrer Geschichte umgehen wollten und damit eine Auseinandersetzung der Insulaner mit dem Dritten Reich in Gang brachten. Wie wichtig diese Aufgabe ist, lässt das ungebrochene Interesse der Führungsteilnehmer auch nach zwei Stunden noch erkennen. Sie sind froh darüber, dass Silke von Bremen nicht zu den großen Schweigern gehört.
