Bernd Reiner ist erfahrener Schiedsmann in der Böcklersiedlung und bringt zerstrittene Nachbarn dazu, sich zu einigen. Wie macht er das?
Der Baum im Nachbargarten verdunkelt die Terrasse, und im Herbst weht Laub herüber. Doch der Nachbar weigert sich, den Baum zu beschneiden. Damit bei solchen Streitfällen nicht gleich das Gericht eingeschaltet werden muss, gibt es Schiedsmänner wie Bernd Reiner. Der 77-jährige Betriebswirt in Rente hat das Ehrenamt bereits im 19. Jahr. Er ist zuständig für die Böcklersiedlung, einen der neun Bezirke der Stadt, um die sich jeweils ein Schiedsmann (oder eine Schiedsfrau) kümmert. In Reiners Aufgabenbereich fallen Nachbarschaftsstreitigkeiten und andere Fälle, die geringe straf- oder zivilrechtliche Bedeutung haben. Er sprach mit dem Courier über typische Konflikte und die besten Wege, sie beizulegen.
Welche Fälle begegnen Ihnen in der Böcklersiedlung am häufigsten?
60 bis 70 Prozent der Fälle sind Streitigkeiten zwischen Nachbarn, wenn zum Beispiel die Äste des Apfelbaums über den Zaun wachsen. Das ist auch in anderen Bezirken normal. Ansonsten geht es auch um Beleidigung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Schadensersatzansprüche oder Bedrohung. Meistens ist dann aber der Apfelbaum nicht der wirkliche Grund, warum die Leute bei mir sitzen. Sie liegen oft schon jahrelang im Streit miteinander. Irgendwann sagt dann einer: „Jetzt reicht es mir, ich gehe zum Schiedsmann.“
Welche Bedeutung hat das Ehrenamt für die Gesellschaft?
Der Wahlspruch heißt ja: Schlichten statt Richten. Man bringt die Kontrahenten zu einer Lösung, bei der beide das Büro zufrieden verlassen. Wir Schiedsmänner und -frauen entlasten die Gerichte sehr stark. Die verweisen Streitfälle an die Schiedsämter. Auch Anwälte wenden sich an uns. Vereinzelt kommt es gar nicht erst zum Fall, weil selbst die geringen Kosten abschrecken. Die liegen laut Schiedsordnung und Landesschlichtungsgesetz zwischen 20 und 70 Euro.
Was bedeutet ein erfolgreicher Vergleich juristisch?
Bei Gericht haben Sie einen Gewinner und einen Verlierer. Bei mir sollen beide Seiten zufrieden herausgehen. Bringt die Verhandlung keinen Erfolg, stelle ich auf Verlangen eine Erfolglosigkeitsbescheinigung aus. Damit kann der Antragsteller sein Anliegen vor Gericht bringen. Von meinen eigenen Fällen ist mir keiner bekannt, der diesen Weg gegangen ist.
Und wenn Sie als Schiedsmann eine Einigung erreichen?
Wenn sich die Parteien etwa über den Umgang mit dem Apfelbaum einigen können, kommt es zu einem Vergleich, der eine gesetzliche Vollstreckbarkeit, also Gültigkeit, über 30 Jahre hat. Wenn die nicht eingehalten wird, kann man vor Gericht gehen.
Wie oft sind Sie erfolgreich?
Meine Quote liegt so zwischen 80 und 90 Prozent.
Das klingt nach sehr viel. Ist das üblich?
Bundesweit liegt die Quote bei über 50 Prozent.
Wie kann man sich denn die typischen Streithähne vorstellen?
Es liegt natürlich nahe, dass eher Leute mit Rechtsschutzversicherung kommen, weil die auch für Schiedsfälle in Anspruch genommen werden kann. Einige sind geneigt, öfter mal zum Schiedsmann zu gehen. Die meisten sind schon etwas älter, ganz selten kommen Jüngere.
Woran, glauben Sie, liegt das?
Ich weiß auch nicht. Vielleicht fängt man erst im fortgeschrittenen Alter an, sich mehr zu streiten.
Und wie bringt man zerstrittene Nachbarn am besten zu einer Einigung?
Grundsätzlich wird nach dem Motto verfahren: Friede steht über Recht. Wenn die beiden Parteien sich nicht selbst einigen können, mache ich Vorschläge. Ich weise bei den Älteren immer darauf hin, dass wir den Zenit unseres Lebens überschritten haben und frage sie: Lohnt es sich denn? Ich erinnere sie, wie wichtig es ist, dass man als Nachbarn gut miteinander auskommen sollte. Irgendwann braucht man sich auch mal.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein älterer Herr hatte einen anderen immer wieder beleidigt: „Gauner, Betrüger“ nannte er ihn, bis der andere genug hatte und beide bei mir saßen. Ich habe sie gefragt, ob so ein Verhalten für ihr Alter angemessen ist. Die beiden wohnen in einem Haus. Ich habe ihnen vorgeschlagen, sich mal gemeinsam in den Garten zu setzen, ein Bier zu trinken. Später, nach erfolgreicher Schlichtung, habe ich gehört, dass sie das tatsächlich gemacht haben. Manchmal ist mit ganz einfachen Mitteln etwas zu erreichen.
Die Stadt erhebt keine Zahlen, aber man schätzt, dass die Fallzahl in den letzten Jahren leicht zugenommen hat. Wie sieht es in Ihrem Bezirk aus?
Es gab Jahre, da hatte ich gar keinen Fall, in anderen acht oder neun Stück. Im letzten Jahr waren es sieben. Zu meinem Bezirk kann ich sagen, dass die Zahlen über längere Zeit eher konstant blieben.
Wer kann Schiedsmann werden?
Jeder volljährige Bundesbürger. Meistens sind es schon etwas ältere Bürger. Das bringt unter Umständen auch etwas mehr Respekt. Juristische Vorkenntnisse sind nicht notwendig. Der Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen legt aber großen Wert auf Schulungen, die etwa viermal im Jahr vorgesehen sind. Die Stadtteilbeiräte nominieren die Bewerber. Verschiedene Gremien, unter anderem die Ratsversammlung, müssen zustimmen. Die Schiedspersonen werden vom Direktor des Amtsgerichts auf fünf Jahre vereidigt.
Macht Ihnen die Arbeit nach 19 Jahren denn immer noch Freude?
Ja. Wenn ich Leute dazu bringe, wieder aufeinander zuzugehen und sich zu einigen, freut mich das. Dann habe auch ich ein Erfolgserlebnis.
Die Stadt hat Nachwuchsprobleme. Wie lange machen Sie noch weiter?
20 Jahre möchte ich noch vollbringen, wenn ich gesundheitlich durchhalte. Über 2018 werde ich nicht mehr verlängern. Schließlich soll man auch noch glaubwürdig erscheinen.