Der Stadt entgehen Millionen Euro wegen falscher Einwohnerzahlen. Statistiker zählen bei den kleinen Flensburgern 50 Prozent mehr Jungen als Mädchen.
Im Februar ist es soweit: Die Stadt Flensburg zieht für ihre Einwohnerzahl vor den Kadi. Sie klagt vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) gegen die Ergebnisse des Mikrozensus von 2011. Der kam – wie berichtet – zu einer erheblich niedrigeren Einwohnerzahl (82.258) für die Stadt als das Melderegister (88.758). Vier bis fünf Millionen Euro gehen dem Kämmerer dadurch Jahr für Jahr verloren, ab 2017 gar acht Millionen. Der Staat hat sich beim Zählen und Hochrechnen vertan – das glauben Politiker und Rathaus-Spitze, das glaubt auch der Zahlenfuchs Björn Christensen von der Fachhochschule Kiel, der die Stadt Flensburg berät.
Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass insgesamt bis zu 55 Städte und Gemeinden aus Schleswig-Holstein gegen den Bevölkerungs-Zensus von 2011 vor Gericht gehen. Grund sind mögliche Erhebungsfehler: Während es bei den kleinen Kommunen Komplett-Erhebungen – also Befragungen aller Einwohner – gegeben hat, wurden in den größeren Kommunen Stichproben genommen und diese dann hochgerechnet. |
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Man warte nur noch auf den Widerspruchsbescheid des Statistischen Landesamtes, sagte die städtische Justiziarin Ellen Eichmeyer im Hauptausschuss. Ob die Stadt Aussicht auf Erfolg hat, ist völlig offen. Eines der Probleme ist die „Löschung aller Hilfsmerkmale“, die Paragraph 19 des Zensusgesetzes vorschreibt. „Das kommt einer Beweisvereitelung gleich“, klagt Eichmeyer. Hilfsmerkmale sind unter anderem Name, Geburtsdatum und Adresse, Erhebungsmerkmale dagegen Geschlecht, Familienstand und Beruf; nur die sind letztlich interessant für die Statistiker. Beide werden getrennt voneinander gespeichert, und die Hilfsmerkmale müssen nach spätestens fünf Jahren gelöscht werden. Niemand weiß, ob dies für Flensburg schon geschehen ist oder nicht. „Das ist ein Streit zwischen Juristen und Datenschützern“, so Ellen Eichmeyer.
Statistik-Professor Christensen wies vor dem Hauptausschuss darauf hin, dass Flensburg im Reigen vergleichbarer Städte fast singulär sei und eine Reihe „absonderlicher Punkte“ vorweise. Zunächst einmal sei der Einwohnerverlust mit rund 6000 hier besonders groß. Fast schon grotesk ist das von dem Zensus ermittelte Ergebnis bei den Ein- bis Siebenjährigen. Hier gebe es angeblich 50 Prozent mehr Jungen als Mädchen! „Das kann nicht erklärt werden, das ist total unplausibel“, so Christensen. Dieses Einzelergebnis habe besondere Folgen: „Keine Mädchen, keine Frauen, keine weiteren Kinder!“
Der Kieler wies auf eine weitere mögliche Fehlerquelle beim Zensus hin: Eckhäuser! Haben diese Eingänge an zwei unterschiedlichen Straßen, könne folgendes geschehen sein: Vor dem Zensus seien alle Bewohner des Hauses zur Vereinfachung einer der Adressen zugeschlagen worden. Kommt jetzt ein Begeher – jemand der Stichproben erhebt – zu dieser Adresse, findet er dort jedoch nur die hier Wohnenden vor und registriert eine Differenz. Wird die hochgerechnet, können schnell einige hundert Bewohner verloren gehen.
Mit Punkten wie diesen hofft Christensen, die Richter davon zu überzeugen, dass beim Zensus grundsätzlich etwas schief gelaufen ist. Dazu kommt der so genannte „Strukturbruch“: Der Einwohnerverlust ist bei Kommunen über 10.000 Einwohnern, bei denen hochgerechnet wurde, signifikant höher als bei denen unter 10.000, bei denen tatsächlich alle Bürger gezählt wurden.
Der Ausgang ist unsicher. Und es ist noch nicht mal sicher, dass – wenn Flensburg obsiegt – man automatisch zu den alten Zahlen zurückkehren kann und wird.