Ein Artikel der Redaktion

Eckernförder Zeitung Hommage an den Vater

Von Redaktion shz.de | 04.11.2016, 16:57 Uhr

Die Türkische Autorin Nuray Çesme liest sich mit ihrem autobiografischen Text „Der Wille versetzt Berge“ in die Herzen der Eckernförder

„Was wäre passiert, wenn Ihr Vater nach seiner Zeit als Gastarbeiter in sein kleines Dorf in der Türkei zurückgekehrt wäre?“ Diese Frage, die der Autorin Nuray Çesme nach ihrer innigen und gleichermaßen unterhaltsamen Lesung am Donnerstagabend in der Buchhandlung Liesegang aus dem Publikum gestellt wurde, hat sich Çesme nach eigener Aussage selbst häufig gestellt. Nach dem unerwartet frühen Tod ihres Vaters, der Ende der 1960er-Jahre mit dem Zug aus der Türkei in die damalige Bundesrepublik reiste, um dort sein Glück und das seiner Familie zu finden, sah sich Çesme ebenso plötzlich mit ihrem eigenen Lebensweg konfrontiert.

„Wer bin ich und wie bin ich zum dem geworden, was ich heute bin?“ – die Biografie Çesmes hält für die Autorin keine simple Antwort bereit. Als jüngste Tochter einer nach Deutschland emigrierten türkischen Gastarbeiterfamilie aus dem kleinen Dorf Balkesir geboren, zweieinhalb Autostunden nördlich von der Mittelmeerstadt Izmir entfernt, erfuhr Çesme bereits früh in ihrer Kindheit die frappanten Unterschiede ihrer eigenen Herkunftskultur und jener deutschen Gastkultur am eigenen Leib. So schämte sie sich als Schulkind für die spärliche Inneneinrichtung ihres Elternhauses, die von Seiten der Eltern nur als temporär betrachtet wurde, und scheute sich lange davor, deutsche Klassenkameraden in ihr Zuhause einzuladen. Erst als ihre Eltern endlich das vom Sperrmüll und von Flohmärkten zusammengesuchte Mobiliar gegen neu gekaufte Möbel aus dem Einrichtungshaus eintauschten, fühlte sie sich bereit, ihre Freunde aus „der anderen Kultur“ in ihr Elternhaus mitzunehmen.

Diese und andere, zum teils lustig, teils nachdenklich stimmende Anekdoten aus dem Leben der Autorin und einem Teil ihrer Familie, die jeweils mit „Mein Vater sagte immer ...“ übertitelt sind, hat Nuray Çesme in ihrem autobiografischen Erstlingswerk zusammengestellt. Damit hat Çesme, die neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als Bilanzbuchhalterin und Abteilungsleiterin eines Konzerns arbeitet, nicht nur ihr Leben auf eine durchaus intime und unprätentiöse Weise literarisch aufgearbeitet, sondern ebenso einen detaillierten und dichten Einblick in die Lebenskultur der türkischen Gastarbeiter der ersten Generation und ihrer Familien geliefert. Mit großer Innigkeit und Zuneigung, gepaart mit einer feinen Beobachtungsgabe, nähert sich Çesme ihrer eigenen Geschichte sowie der ihrer Eltern und lenkt dabei die Aufmerksamkeit des Lesers immer wieder auf die Figur ihres geliebten Vaters, dem sie mit ihrem Text literarisch eine Hommage setzt.

Dass dabei narrative Analogien zu ähnlichen, autobiografisch gefärbten Publikationen wie Jan Weilers deutsch-italienischer Familiengeschichte „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ oder Vladimir Kaminers Schilderung jüdisch-russischen Migrantenlebens in der BRD in seinem Bestseller „Russendisko“ offenbar werden, vermindert den positiven Gesamteindruck des Erstlingswerkes nicht. Im Gegenteil: Gerade jene tiefe und echt erlebte Herzlichkeit und Sympathie für die Einfachheit ihres Elternhauses, die nach Aussage Çesmes von der Autorin jedoch nie als eine Begrenzung ihrer persönlichen Entwicklung aufgefasst wurde, verschafft der Textcollage ihre ganz eigene literarische Wertigkeit. Diese, möglicherweise orientalisch geprägte Haltung zum Leben und seinen vielfältigen Wegen erlebte das begeisterte Eckernförder Publikum während der Lesung nicht nur durch Çesmes eigenen warmherzigen Vortragsstil, sondern auch durch ihren Clou, dem Publikum die Herzlichkeit ihrer Familie durch die Köstlichkeit türkischer Vorspeisen (Meze) ganz im Sinne des Sprichwortes „Liebe geht durch den Magen“ näherzubringen.