Die Piraten fliegen wahrscheinlich aus dem Landtag. Doch Fraktionschef Patrick Breyer will kämpfen.
Seine vegetarische Pizza schneidet Patrick Breyer sorgfältig in acht gleich große Stücke. Wenn am Abend des 7. Mai die Ergebnisse der schleswig-holsteinischen Landtagswahl in Form von Pizzastücken über den Bildschirm flimmern, wird das der Piraten wohl nicht mehr dabei sein. Das einstige Sprachrohr der digitalen Bohème fliegt wahrscheinlich aus dem vorletzten Landtag, eine Woche später folgt Nordrhein-Westfalen. Doch Breyer kämpft.
Der 39 Jahre alte Fraktionschef der Piraten im Kieler Landtag hat keine Chance, aber gibt nicht auf. „Totgesagte leben länger“ lautet ein selbstironischer Slogan der Netz-Partei. Von „Themen statt Köpfe“ ist sie zu „Themen durch Köpfe“ übergegangen. Breyer übt sich seither als Kopf einer Partei, die in Umfragen nur noch als Sonstige auftaucht.
Er will das „Betriebssystem der Politik updaten“, wiederholt der aus Hessen stammende Breyer mantraartig sein Politikverständnis. Mehr als 300 Mal redete er in der vergangenen Legislaturperiode im Landtag, so häufig wie kaum einer. Er stellte Hunderte Anfragen, will unbequem sein. Es gelte, „öffentlichen Druck zu erzeugen, um Veränderungen zu erreichen“, sagt er.
Er erinnert an die von Piraten angestoßenen Gesetze zu Karenzzeiten beim Wechsel in die Wirtschaft, zum Wahlrecht für 16-Jährige - oder die aufgedeckten Misshandlungen an der Polizeischule Eutin und beim Jugendheim Friesenhof. Transparenz ist ihm wichtig.
Breyer ist auf dem Weg nach Albersdorf in Dithmarschen. Bei einer Windkraftdebatte will er den Menschen vor Ort eine Stimme geben und um Stimmen werben. Seinen Dienstwagen fährt er selbst - es ist sein eigener, ein in die Jahre gekommener Kleinwagen. Nur zwei von vier Radkappen sind noch dran. „Das Geld ist überall anders besser angelegt. Da kann man ein Jahr lang einen Lehrer von bezahlen“, sagt er zu Fahrer und Limousine, die ihm als Fraktionsvorsitzendem eigentlich zustünden. Bei lauter „Schnittchenterminen“ wolle er „nicht die Bodenhaftung verlieren“.
In der öffentlichen Wahrnehmung fiel die Partei häufig aber genau damit auf: Steter Streit unter Parteimitgliedern, ein Berliner Pirat, der die Leiche seines Geliebten per Schubkarre transportiert haben soll. Prominente Mitglieder wie Marina Weisband gingen, andere wechselten lautstark die Couleur: Christopher Lauer ging zur SPD, Martin Delius zu den Linken, Bernd Schlömer zur FDP. „Die Leute auf der Straße wissen oft nicht mal, dass es uns noch gibt“, sagt Breyer. Er hofft, dass sich das ändert. „Andere Parteien haben jemand Talkshowtauglichen an der Spitze“, erklärt er die miesen Umfragen.
Breyer gefällt sich als Underdog. Bis er in den Landtag zog, war er Amtsrichter in Meldorf. FDP-Landeshauskollege Wolfgang Kubicki findet ihn nervig. „Ich frage mich einmal mehr, wer Sie zum Richter gemacht hat“, warf er ihm bereits entgegen. SPD-Fraktionschef Ralf Stegner legte nach: „Ich bedaure die Menschen, die vor Ihnen stehen, wenn Sie wieder Richter sind.“ Derlei Angriffe sind für Breyer Bestätigung. Im Fraktionsbüro bellt Hündin „Google“ bei den Worten „Stegner“, „Kubicki“ oder „Vorratsdatenspeicherung“ wie auf Kommando los.
Um bei Rendsburg einen Stau zu umfahren, weicht Breyer auf eine bucklige Straße aus. „Hoffe, dass man da weiterkommt.“ Er spricht über Ärzte- und Lehrermangel, über den Ausverkauf von Wohnraum auf Sylt. Ein Display in der Mittelkonsole bescheinigt ihm noch 489 Kilometer Reichweite. Die der Piraten entscheidet sich mit den Wahlen. „À droite“ befiehlt die Frau aus dem Navi auf Französisch, eine Hommage an Urlaube in der Kindheit. Doch das Navi liegt falsch.
Es lotst ihn wieder Richtung B77, wo sich der Verkehr staut. Der Rückwärtsgang knarzt und der etwa beim Datenschutz stets um Prinzipien kämpfende Jurist dreht - über die durchgezogene Linie.„Aus Unzufriedenheit schweißt sich der Wunsch nach Veränderung“, sagt Breyer. Er will eine Alternative zu „etablierten Parteien“ bieten.
Die AfD spricht von „Altparteien“ - und meint die gleichen. Breyer mag den Vergleich nicht. „Die AfD ist nicht unbequem, sondern steht in der rechten Ecke.“ Die Piraten stünden für mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung und die Weisheit der Vielen. „Das ist ein fundamental anderer Ansatz.“ Auch für den Wähler? „Sie zogen als Protestpartei in den Landtag“, sagt der Kieler Politologe Joachim Krause über die Piraten. „Ihre Suche nach einer Programmatik hat sie aufgerieben.“ Viele bis dato Nichtwähler stimmten 2012 für sie, ergänzt Wahlforscher Roberto Heinrich von Infratest Dimap. „Es ist ihnen schwer gefallen, Digitalthemen mit landespolitischen Themen zu kombinieren.“ Und die Protestwähler zögen nun weiter: „Sie wählen in der Regel die Partei, über die sich die etablierten Parteien am meisten ärgern“, sagt Krause. Breyer selbst meidet den Begriff Protestpartei. „Wir sind eine Partei der Mut-, nicht der Wutbürger“, sagt er. Wie zum Trotz schleudert ein Trecker noch mehr Dreck gegen das eh schon schmutzige Auto.
Angekommen in Albersdorf. 3000 Einwohner, seit die Bundeswehr weg ist gefühlt noch weniger. In der Kneipe, in der Breyer isst, unterhalten sich zwei Männer über Autos. Sie trinken ein Pils aus der Knolle. Ob sie wohl je vegetarische Pizza bestellen oder gar Piraten wählen würden? Es ist Breyers Wahlkreis. Er, der das Tanzen liebt, lebt längst mit seiner Partnerin in Kiel. Ja, wenn er eingeladen würde, würde er auch beim Kohlanschnitt sprechen, aber „wenn es nur ums Feiern geht, feiere ich lieber mit meinen Freunden“.
Die Windkraft-Diskussion steigt am Abend in der Turnhalle der früheren Kaserne, Bambus an der Bar soll wohl Exotik suggerieren. Es geht um die umstrittene Flächenplanung des Landes und Hunderte Vorrangflächen. Breyer hat sich vorbereitet - und die Antwort auf eine seiner Kleinen Anfragen mitgebracht, wie viele Ausnahmen es trotz Moratorium beim Windanlagenbau gibt. Punkt für Punkt widerlegt Breyer mit der Akribie des Richters viele Argumente seiner Gesprächspartner: Schallmessverfahren, Genehmigungen, Bürgerwille.
Doch es ist auch diese Art, die manche verärgert. Ein Zuhörer verlangt im Anschluss, die Redezeit für Politiker zu begrenzen. Selbst mit Anhängern seiner Politik, wie einem Arzt, dessen Verein Gegenwind gemeinsam mit den Piraten mehr Mitbestimmung fordert, kann Breyer nicht rechnen. Was er für Beteiligung täte, sei gut, sagt der Arzt. Ob er ihn wählt? Er zögert. „Eigentlich sollte man sich von den Zahlen der Umfragen nicht verleiten lassen“, sagt er. Eigentlich.
Breyer weiß, dass viele so denken. Er beklagt die Unzuverlässigkeit der Umfragen wie etwa im Saarland. Dennoch rechnet er damit, bald wieder Richter zu sein. „Jeder muss in der Politik einen Plan B haben, sonst würde er Dinge machen, die er sonst nicht machen würde“, sagt er. Die Partei zu wechseln, sagt er, käme für ihn nie infrage.
Auf dem Rückweg nach Kiel wird Breyer in seinem Kleinwagen von einem Abteilungsleiter aus dem Ministerium überholt, mit dem er eben noch gestritten hatte. In einer schwarzen Dienstlimousine.
Ein Video-Interview mit dem Spitzenkandidaten der Piraten finden Sie hier.