Heidi Klums „Germany‘s Next Topmodel“ zeigt eine verzerrte Realität, kritisiert Marco Sinervo. Er sagt: Die Kandidatinnen haben auf dem echten Markt keine Chance. Und: „Meine Branche wird unseriös und falsch widergespiegelt.“
Heidi Klums „Germany‘s Next Topmodel“ zeigt eine verzerrte Realität, kritisiert Marco Sinervo. Im Interview spricht der Chef der Modelagentur MGM über fragwürdige Nacktfotos, unrealistische Shootings und ein falsches Verständnis von Diversität.
Herr Sinervo, es läuft wieder „Germany’s Next Topmodel“ (GNTM). Schauen Sie sich das an?
Nein. Ich habe nur einmal kurz reingeschaut, um zu sehen, was für Kandidatinnen dabei sind.
Und, welchen Eindruck hatten Sie?
Ich bin schon ein bisschen fassungslos, wenn ich das sehe. Ich dachte, dass man bei der Auswahl der Teilnehmerinnen mal wieder mehr auf Model-Potenzial achten würde, aber ganz im Gegenteil.
Für Sie hat keine der Kandidatinnen das Zeug zum Model?
Nein, niemand. Das muss man sich mal vorstellen!
Warum nicht?
Das ist ein Querschnitt aus der Gesellschaft, aber es sind keine herausragend schönen oder fotogenen Menschen. Solche Leute stellen sich bei uns jeden Tag vor.
Wie erklären Sie sich das?
Ich nehme an, dass es nicht mehr viele gute Bewerberinnen gibt. Die jungen Frauen sehen ja auch, dass aus den Ex-Kandidatinnen keine echten, erfolgreichen Models werden und gehen lieber zu Agenturen als zu GNTM. Das ist wahrscheinlich ein Grund, warum die Sendung auf Diversity setzt und bunte Lebensgeschichten erzählt, statt ernsthaft Models zu entwickeln.
Seit sich die Show „Diversity“ auf die Fahnen geschrieben hat, gibt es kleine, große, füllige, ältere oder tätowierte Kandidatinnen. Das ist doch toll, oder nicht?
Ich finde es gut, dass die Gesellschaft sich weiterentwickelt und diverser sein möchte. Aber was GNTM da zeigt, ist eine verzerrte Realität, die es im Modelgeschäft so nicht gibt. Diversität im Modelbusiness ist die verschiedene Herkunft von Models: Heute machen viel mehr Asiatinnen oder People Of Colour den Job. Aber Diversität ist nicht, wenn jemand 1,94 Meter groß ist, aufgespritzte Lippen hat oder von Kopf bis Fuß tätowiert ist. So kann man als Model nicht arbeiten.
Sie hätten auf dem Modelmarkt keine Chancen?
Naja, sehen Sie viele Leute in der Werbung, die Tattoos haben? Nein! Oder diese dicken, aufgespritzten Lippen einer der Teilnehmerinnen: Das ist ein absolutes No Go! Und die Kandidatin, die 1,94 Meter groß ist, wird nie in ihrem Leben modeln können. Das ist eine Übergröße, sie passt in keine normalen Klamotten rein.

Was ist mit kleinen Models? An der aktuellen Staffel nimmt eine Flensburgerin teil, die nur 1,66 Meter groß ist.
Wenn sie sehr hübsch ist, mag es sein, dass sie Wäsche oder Kosmetik machen kann, aber sie wird kein Topmodel werden, weil sie nicht über den Laufsteg gehen kann. Sie müssen sich vorstellen, dass eine Fashion-Show orchestriert ist. Wenn dann ein Model 1,94 und das nächste 1,66 Meter groß ist, sieht das nicht gut aus. Man schneidert ja auch die Sachen in der Standardgröße 36, in der sie meistens am besten aussehen.
Aber ändert sich das nicht gerade? Es gibt doch inzwischen auch mollige Models.
Es gibt einen überschaubaren Nischenmarkt für Plus Size, der sich vor allem im kommerziellen, aber nicht in einem High-Fashion-Segment bewegt. Curvy Models sieht man dann halt nicht in Mailand oder Paris, und wenn doch, soll das häufig den Effekt haben: „Seht her, wir sind jetzt divers und zeigen Mädchen mit der Konfektionsgröße 46.“ Aber selbst diese Designer gehen immer wieder zurück zu den schlanken Models.
Den Frauen bei GNTM wird gesagt: „Wow, als Plus Size Model kannst du ganz erfolgreich werden, die Ashley Graham hat’s auch geschafft!“ Aber Ashley Grahams Erfolg ist eine Ausnahme, und die Chance, dass man die zweite Ausnahme ist, ist sehr gering. Da muss man sich nur mal aufmerksam die Magazine und Werbung anschauen.

Könnte nicht GNTM ein Vorreiter in Sachen Diversität sein?
Daran glaube ich nicht. Wir haben gewisse Schönheitsideale in uns drin, die sich nicht ändern werden, und die ein Model nun mal abbildet. Hier spiegelt die Show völlig falsche Tatsachen vor, und das finde ich so blöd, denn für die Bewerberinnen ist das ernst. Die kommen danach zu uns und sagen: „Ich war unter den Besten bei Germany‘s Next Topmodel, was kann ich denn jetzt machen?“ Und sann sagen wir: „Tut mir leid, du hast kein Potenzial.“
Sie hatten ja auch einige Teilnehmerinnen unter Vertrag…
Stimmt, Simone Kowalski zum Beispiel, Greta Faeser, Tessa Bergmeier oder Fiona Erdmann. Man muss sagen, dass es früher im Gegensatz zu heute schon interessante Mädchen bei GNTM gab. Man konnte sie aber nicht so gut einsetzen, weil sie durch das Image der Show und ihre Darstellung darin zu schrill und grell geworden waren. Da sind Kunden wirklich vorsichtig.

Wie realistisch sind denn die Inhalte von GNTM – Fotoshootings mit Spinnen, nackt oder in 20 Metern Höhe…
Die extremen Shootings sind nichts als Entertainment, das gibt es in der Realität so gut wie nie. Und ich finde es äußert fragwürdig, wie in der Show Druck auf die Frauen ausgeübt wird, sich nackt zu zeigen. Wenn ein Kunde bei uns ästhetische Nacktshootings anfragt, werden doch die Models gefragt, ob sie das machen wollen! Deshalb regt mich das Format auch so auf, weil es meine Branche unseriös und falsch widerspiegelt.

Ein Klassiker bei GNTM ist das Umstyling. Raten Sie Ihren Models auch mal zu einer Typveränderung?
Nein. Natürlich kommt es vor, dass man zum Beispiel vorschlägt, von stark blondiertem Haar wieder auf moderates Blond zu gehen oder einen anderen Haarschnitt zu probieren. Aber das passiert immer in Absprache mit dem Model! Sie muss sich damit wohlfühlen und es muss ihren Typ unterstreichen und nicht ändern. Ein komplettes Umstyling würden wir nie machen.
Was ist mit den Castings, bei denen die Bewerberinnen oft kleine Aufgaben meistern müssen?
Das sind Fake-Castings, die ja nur zustande kommen, weil sich die Modemarken einem großen Publikum präsentieren wollen. Ich glaube nicht, dass einer dieser Kunden ein Model aus den letzten Staffeln unter normalen Umständen ohne Fernsehkameras einladen würde. In Wirklichkeit sind Castings auch sehr unaufgeregt und schnell, es wird fast gar nicht geredet.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass man früher junge Frauen regelrecht dazu überreden musste, es als Model zu versuchen, während sich heute viele zu viele ohne Potenzial bewerben. Woran liegt das?
Die Frage stelle ich mir auch manchmal. Wenn man sieht, welche Bewerbungen wir so bekommen, ist das witzig und traurig zugleich. Heidi Klum trägt sicher ihren Teil dazu bei, indem sie sagt: alles geht! Das ist aber eine Veralberung. Warum macht sie nichts Vernünftiges aus GNTM und hilft den Leuten wirklich zum Erfolg? Oder sie soll halt ein anderes Entertainment-Format machen, es aber dann nicht Next Topmodel nennen.
Der Hamburger Marco Sinervo (47) ist Gründer und Chef der Modelagentur MGM, einer der größten Modelagenturen Europas mit Sitz in Hamburg, Düsseldorf und Paris. Sein Buch „Fame vs. Fake. Wie das Geschäft von Models und Influencern wirklich läuft“ erschien 2022 im mvg Verlag.
