Abgeordnete in der Türkei sollen ihr Recht auf Straffreiheit verlieren. Dafür soll im Parlament die Verfassung geändert werden. Erdogan will dadurch vor allem die prokurdische Partei HDP treffen.
Die Rechte von Parlamentariern in der Türkei sollen beschnitten werden: Nach wochenlangem Streit und sogar Schlägereien hat eine breite Mehrheit des türkischen Parlaments in einer ersten Runde am Dienstag für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt. Die nötige Zweidrittelmehrheit für eine direkte Verfassungsänderung zu diesem Zweck wurde am Dienstagabend in Ankara jedoch nicht erreicht, wie der Sender CNN Türk berichtete. Die entscheidende Abstimmung folgt am Freitag. Stimmen dann zwei Drittel - also 367 Abgeordnete - für die Änderung, wird die Immunität von 138 Abgeordneten einmalig aufgehoben.
Präsident Erdogan regiert in der Türkei zunehmend als autoritärer Herrscher. Er lässt regierungskritische Journalisten einsperren , unterbindet Demonstrationen, und jetzt versucht Erdogan, die Rechte von Parlamentariern zu beschränken. |
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Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hatte den Antrag auf Verfassungsänderung eingebracht, der sich vor allem gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP richtet. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben. Er wirft ihnen vor, der „verlängerte Arm“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament zu sein.
Der seit Wochen schwelende Konflikt um die Aufhebung der Immunität hatte sogar schon zu Schlägeren von AKP- und HDP-Anhängern im Parlament geführt:
Wer wäre von einer Aufhebung der Immunität betroffen?
Von der Aufhebung der Immunität wären alle vier im Parlament vertretenen Parteien betroffen. Besonders schwer träfe die Maßnahme aber die HDP. 50 ihrer 59 Abgeordneten soll vor allem wegen Terrorvorwürfen die Immunität entzogen werden. Damit wäre der Weg für eine Strafverfolgung frei. Insgesamt liegen nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu 667 Anträge auf Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten vor. Sie werden verdächtigt, Straftaten begangen zu haben. Betroffen sind auch 27 Parlamentarier der AKP, 51 der Mitte-Links-Partei CHP und neun der ultrarechten MHP sowie eine parteilose Abgeordnete.
Welche Vorwürfe gibt es?
Gegen die HDP-Parlamentarier werden die schwersten Vorwürfe erhoben: Sie werden vor allem beschuldigt, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen oder ihr sogar anzugehören. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich weniger schweren Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch ausgesetzt.
Was hat Erdogan gegen die HDP in der Hand?
Viele Anschuldigungen gegen die HDP gehen auf Reden von Abgeordneten zurück, bei denen sie etwa für kurdische Autonomie eintraten. Sollte ihre Immunität aufgehoben werden, könnten sie gemäß den umstrittenen Anti-Terror-Gesetzen der Türkei angeklagt werden.
Wie kann die Immunität aufgehoben werden?
Mit einer vorübergehenden Verfassungsänderung soll einmalig die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben werden, gegen die entsprechende Anträge vorliegen. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nötig, das sind 367 Abgeordnete. In der ersten Abstimmungsrunde am Dienstag stimmten 348 Abgeordnete nach Angaben von CNN Türk dafür, 155 dagegen. Hinzu kamen acht Enthaltungen. Sollte bei der zweiten Abstimmung am Freitag die Zweidrittelmehrheit erneut verfehlt werden, ist bei mindestens 330 Stimmen noch der Umweg über ein Referendum möglich.
Was passiert, wenn die Immunität aufgehoben wird?
Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir befürchtet, dass Parlamentarier seiner Partei nach einem Aufheben der Immunität festgenommen werden. „Das wäre eine Katastrophe nicht nur für unsere politische Arbeit, sondern für den Rechtsstaat und die Demokratie in der Türkei“, sagte Pir am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. „Ich weiß nicht, was das in den Kurdengebieten für dramatische Auswirkungen haben wird.“ Pir gehört zu den Abgeordneten, deren Immunität aufgehoben werden soll.
Die HDP warnt vor einem „neuen totalitären Angriff“ auf die parlamentarische Demokratie, der Erdogan „monopolartigen Zugriff“ auf die Legislative ermöglichen würde. Die HDP befürchtet außerdem neue Unruhen in den Kurdengebieten, sollte sie mehrheitlich aus dem Parlament gedrängt werden.
Verlieren die Parlamentarier ihren Sitz?
Zumindest nicht sofort. Bis zu einer letztinstanzlichen Verurteilung bleiben sie Abgeordnete. Dann allerdings können sie ihr Mandat verlieren. Nachrücker gibt es in der Türkei nicht, das heißt, auch die Partei verliert den Sitz. Sollten mindestens fünf Prozent der Sitze frei werden - was 28 Abgeordneten entspricht - dann muss nach der Verfassung in diesen Wahlbezirken nachgewählt werden.
Wie verhält sich Europa?
Dutzende Europaabgeordnete haben mit einer Petition gegen die geplante Aufhebung der Immunität von Parlamentskollegen in der Türkei protestiert. Unter der Überschrift „Die Opposition zum Schweigen zu bringen, ist nicht der richtige Weg zur Lösung von Problemen“ äußern sie darin ihre „tiefe Besorgnis“ über den von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP beabsichtigten Schritt.
Es sei klar, dass sich das Verfahren vor allem gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP richte, heißt es in dem Text. Es behindere das Parlament und verstoße gegen demokratische Prinzipien.
Zu den deutschen Unterstützern der von der HDP verbreiteten Petition zählen demnach der CDU-Abgeordnete Elmar Brok, die Linken-Politiker Gabriele Zimmer und Fabio De Masi sowie Grünen-Fraktionschefin Rebecca Harms. Insgesamt unterzeichneten bis Dienstag rund 70 Europaabgeordnete.